Das Massaker von Srebrenica (1): 1993

Das Massaker von Srebrenica (1): 1993

„Larry. Keine Männer unter sechzig, okay?“

UN-General Morillon zu Larry Hollingworth, Leiter der Aktivitäten des UNHCR in Bosnien 1993

Beim Massaker von Srebrenica ab dem 11. Juli 1995 wurden 8000 Jungen und Männer in einer UN-Schutzzone in unmittelbarer Nachbarschaft zu UN-Blauhelmsoldaten ermordet. Die Frauen und Kinder wurden in Bussen evakuiert und gerettet. Die Männer wurden ihren Schlächtern übergeben. Ein gutes Vierteljahrhundert später wird in der sogenannten Istanbul-Konvention das Menschenrechtsversagen der Weltgemeinschaft zum politischen Konzept. 27 Jahre nach Srebrenica hat die Weltgemeinschaft männlichen Opfern von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung keine andere Lösung zu bieten als Wegschauen. 2021 bestreitet die den Grünen nahe Heinrich-Böll-Stiftung bezüglich des Massakers von Srebrenica einen Missstand zu Lasten von Jungen und Männern.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Versuche wie die der Heinrich-Böll-Stiftung, männliche Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch zu verharmlosen oder vielleicht gänzlich zu vertuschen, werden wir diese Menschenrechtsverbrechen und das Menschenrechtsversagen der Weltgemeinschaft in Erinnerung behalten.

Um die Ereignisse beim Massaker von Srebrenica vom Juli 1995 verstehen zu können, ist die Vorgeschichte bei der ersten Belagerung von Srebrenica 1993 essentiell. Denn bei der ersten Belagerung 1993 wurde der „Women and children only“-Codex zwischen UN und den Völkerrechtsverbrechern ausgehandelt, wodurch zwei Jahre später die UN den männlichen Teil der bosnischen Serben in der UN-Schutzzone ihrem Schicksal überließ. 8000 von ihnen wurden ermordet.

Vorgeschichte

Der Bosnienkrieg war der Teil der Jugoslawienkriege (1991 bis 2001), der in Bosnien und Herzegowina geführt wurde, er dauerte von 1992 bis 1995.

Auf der 14. Sitzung der Versammlung der Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina am 16. Mai 1992 verabschiedeten die Abgeordneten sechs strategische Ziele des serbischen Volkes. Das strategische Ziel Nr. 3 forderte die Beseitigung „der Grenze entlang des Flusses Drina, die heute die serbischen Staaten trennt“ – die Republik Serbien und die Republika Srpska.
Am 19. November 1992 unterzeichnete General Ratko Mladić, Befehlshaber des Hauptstabs der bosnisch-serbischen Armee (BSA), seine Direktive Nr. 4, in der die Mittel zur Umsetzung des dritten strategischen Ziels festgelegt wurden: „Dem Feind so viele Verluste zufügen, dass er gezwungen ist, die Gebiete Birač, Žepa und Goražde“ in Ostbosnien mitsamt der muslimischen Zivilbevölkerung zu verlassen.
Zur Umsetzung des strategischen Ziels Nr. 3 leitete die Armee im Winter 1992/93 eine Reihe von Militäraktionen auf der Grundlage der Richtlinie Nr. 4 ein. Zehntausende von Muslimen, die in den muslimischen Dörfern im Drina-Tal ethnisch gesäubert worden waren, mussten daraufhin in den Enklaven Srebrenica, Žepa und Goražde Zuflucht suchen.

(Quelle: | Srebrenica SREBRENICA – Völkermord in acht Akten (sensecentar.org); http://srebrenica.sensecentar.org/en/; Abruf 11.05.2022)

Zur Belagerung Srebrenicas 1993 schreibt Wikipedia unter „Massaker von Srebrenica“ (Abruf 25.5.22):

Im Frühjahr 1993 reorganisierte sich das bosnisch-serbische Militär unter Ratko Mladić. Seine erfolgreichen Offensiven reduzierten den Einflussbereich der Bosniaken bis März 1993 wieder auf ca. 150 Quadratkilometer. Bosniaken aus der Region um Srebrenica flüchteten im Zuge dieser Kampfhandlungen in die Stadt, deren Einwohnerzahl dadurch auf 50.000 bis 60.000 anstieg – 1991 hatte diese Zahl bei zirka 6000 gelegen.
General Philippe Morillon, Kommandant der UNPROFOR in Bosnien, besuchte die von Flüchtlingen überfüllte Stadt im März 1993. Die Lebensbedingungen in Srebrenica waren zu diesem Zeitpunkt kritisch: Die Trinkwasser- und Stromversorgung war weitgehend zusammengebrochen, Vorräte an Nahrung und Medikamenten waren sehr knapp, genauso wie Wohnraum. Am 12. März 1993 versprach Morillon den Einwohnern öffentlich, Srebrenica werde unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt; die UNO werde Srebrenica und seine Einwohner nicht im Stich lassen. [Matthias Fink: Srebrenica. Chronologie eines Völkermords, S. 13 f., S. S. 175 f. Datum 12. März 1993 dort S. 206.]
Im März und April 1993 wurden unter der Aufsicht des UNHCR tausende Bosniaken aus Srebrenica evakuiert. Die bosnische Regierung in Sarajevo protestierte gegen diese Evakuierungen, weil diese Maßnahmen aus ihrer Sicht die Politik der ethnischen Säuberungen in Ostbosnien begünstigte.

(Quelle: Massaker von Screbrenica auf Wikipedia, Abruf 23.5.202)

Der völkerrechtswidrige Deal

Das Versprechen, das General Morillon gab, wurde nicht gehalten, denn Männer im wehrdienstfähigen Alter ließ die UN im Stich. Der eigentliche Deal, Frauen und Kinder zu retten, aber Männer im wehrdienstfähigen Alter zurückzulassen, wurde zwischen dem UN-General Philippe Morillon und den Serbenführern Slobodan Milošević (Präsident der Republik Serbien) und Ratko Mladić (bosnisch-serbischer General und Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska  – Vojska Republike Srpske, VRS) ausgehandelt.

In der Zwischenzeit verhandelte Morillon nun doch direkt mit Mladić. Am 26. März trafen sich die beiden bei Slobodan Milošević in Belgrad, und Ratko Mladić stimmte einer Waffenruhe in ganz Bosnien-Herzegowina ab dem 28. März zu. (…) schon am nächsten Tag sollte der erste fahren und auf dem Rückweg Frauen und Kinder mitnehmen dürfen. Nur wehrdiensttaugliche Männer waren von einer Evakuierung ausgeschlossen.“ (Quelle: Matthias Fink: „Srebrenica – Chronologie eines Völkermords“, Hamburger Edition HIS Verlagsges.mbH; 2015, S. 186)

Die Evakuierung verlief völlig chaotisch:

(…) dieses Mal gab es sogar sechs Tote: Kinder wurden bei dem Ansturm niedergetrampelt oder auf vollgepferchten Ladeflächen, auf denen die Menschen stundenlang extrem eng aneinandergepresst stehen mussten, erdrückt. Zwei Tage danach, beim dritten Konvoi am 31.März, gab es noch einmal sechs Tote.“ (Matthias Fink: „Srebrenica – Chronologie eines Völkermords“, Hamburger Edition HIS Verlagsges.mbH; 2015, S.187)

Larry Hollingworth leitete während des Konflikts die Aktivitäten des UNHCR in Bosnien. Er hat die Geschehnisse damals in einem Buch festgehalten. Das nachfolgende Zitat stammt aus diesem Buch und gibt den Moment wieder, als die UN Frauen, Alte und Kinder evakuierte, Männer im wehrpflichtigen Alter aber zurückließ:

Alles war außer Kontrolle geraten. Auf den Lastwagen befanden sich Tausende von Menschen. Frauen hatten sich Babys und Kleinkinder übergeworfen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, zu entkommen. Die Babys heulten, die kleinen Kinder schrien, die Frauen weinten. Ich sprang von dem Fahrzeug. (…) Ich habe das Radio eingeschaltet und mit Kiseljak und Zagreb gesprochen.
– Sehen Sie, hier herrscht Chaos. Ich habe Hunderte auf den Lastwagen, vielleicht sogar Tausende. Nur wenige sind die Kranken, die ich evakuieren wollte. Ich kann die ganze Evakuierung abblasen und es noch einmal versuchen oder mit dem, was ich habe, weitermachen.
– Sie sind vor Ort. Was meinen Sie, was Sie tun sollten?
Das hatte ich bereits durchdacht. Wenn ich die Evakuierung abbreche, werden die Menschen die Lastwagen verlassen. Würden wir die Lastwagen dann leer rausschicken, nach all den Verhandlungen, die wir geführt haben, um so weit zu kommen? Wenn wir die Lastwagen leeren und abwarten würden, würde die Menge dann verschwinden? Äußerst unwahrscheinlich. Sie hatten ja nichts anderes zu tun. Könnten die örtlichen Behörden die Menschen daran hindern, die Lastwagen zu besteigen? Ich hatte den Eindruck, dass Naser Orić [der Führer der bosnischen Streitkräfte in Srebrenica] und seine Truppen das könnten, aber die anderen nicht. Würde Orić das tun? Warum sollte er seine eigenen Leute verärgern? Ein paar weniger in der Stadt würden der Verteidigung keinen Abbruch tun.
– Ich denke, ich sollte versuchen, so viele Kranke wie möglich zu bekommen und dann die Lastwagen zu füllen.
– OK – sagten meine Herren. Aber passt auf, dass man uns nicht vorwirft, den Ort zu säubern. Ich habe mir nicht einmal erlaubt, mich zu diesem Thema zu äußern. Dann sprach ich mit General Morillon [UN-General in Srebrenica] unten am serbischen Kontrollpunkt. Ich habe ihm erklärt, was vor sich geht.
Herr General, Sie haben die Genehmigung für siebenundneunzig. Ich kann sie stornieren oder mit fast tausend auftauchen.
– Larry, du kommst. Wir warten schon.
– General, das ist keine Antwort auf meine Frage.
– Larry, Sie gehen jetzt.
– Okay, General. Ich gehe jetzt.
– Larry. Keine Männer unter sechzig, okay?
Das war also seine Antwort. Macht euch auf den Weg. Nimm mit, was du hast. Stellen Sie sicher, dass es keine Männer unter sechzig gibt. Ich erklärte Louis [= Louis Gentile, UNHCR-Vertreter in Srebrenica], was ich zu tun gedachte, schüttelte ihm die Hand und wünschte ihm alles Gute.

Das ist eine sehr wichtige Phase. Man kann sie als den Wendepunkt der Menschenrechtspolitik der Weltgemeinschaft unter Führung der UN sehen. Hier teilt die UN die Menschen in schutzwürdige und nicht schutzwürdige Menschen ein, und der Trennungsstrich verläuft zwischen den Geschlechtern. Damit sind die Menschenrechte faktisch abgeschafft. Denn Menschenrechte beruhen auf der Überzeugung, dass alle Menschenleben  gleich viel  wert sind und deshalb auch den gleichen Schutz vor Gewalt verdienen. Und genau diese Überzeugung hat die UN offenbar nicht.

Den Deal, den die UN mit den Menschenrechtsverbrechern damals geschlossen hat, dieses Menschenrechtsversagen der UN, wird ein gutes Vierteljahrhundert später in der sogenannten Istanbul-Konvention zum politischen Konzept. In der Istanbul-Konvention bekennt sich der Europarat zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Zur Bekämpfung von Gewalt gegen Jungen oder Männer bekennt sie sich nicht. Wir kritisieren nicht den Einsatz für den Schutz von Frauen und Mädchen einsetzt, denn dies ist ohne Frage wichtig. Wir kritisieren, dass sie dies ganz bewusst auf Kosten von Männerleben macht.

Mit der Istanbul-Konvention wird der Schutz von Frauen und Mädchen zur alleinigen Norm von Menschenrechten und normalisiert mittelbar Gewaltverbrechen gegen Jungen und Männer. Dies ist ein äußerst fragwürdiges Signal an die Menschenrechtsverbrecherregimes der Welt, die dies als Duldung von Gewaltverbrechen an Jungen und Männern wahrnehmen können.

Es ist der gleiche Deal wie in Srebrenica. Und deshalb haben wir den Tag des Beginns des Massakers von Srebrenica als Gender Empathy Gap Day festgelegt. Die Istanbul-Konvention verwandelt Srebrenica zur völkerrechtlichen Norm und erteilt der Weltgemeinschaft  nebenbei nachträglich die Absolution für ihr Menschenrechtsversagen von damals.

Die Evakuierung

Hollingworth schreibt weiter:

Ich wollte gerade das Gebäude verlassen, als Tony Birtley [Journalist für ABC News] auf mich zukam.
Larry, kannst du mir einen Gefallen tun? Würdest du meine Filme herausnehmen und sie ABC in Tuzla geben? Ich nahm sie ihm ab und stopfte sie in meine verschiedenen Taschen. (…)
Ich setzte den Konvoi ziemlich schnell in Bewegung, denn an jeder Ecke warteten Menschenmassen auf die Chance, nach Tuzla zu fahren. Wir fuhren etwa eine Viertelstunde. Dann waren wir aus der Stadt heraus, dem serbischen Feuer ausgesetzt, aber nicht den verrückten Menschenmassen. Dann hielt ich den Konvoi an und versuchte, die Menschen zu zählen. Ich machte auch klar, dass alle männlichen Personen unter sechzig von den Serben am Kontrollpunkt verhaftet würden und dass ich nichts tun würde, um ihnen zu helfen. Es war ein Ehepaar an Bord.
– Was können wir tun? fragten sie.
– Aussteigen und zurücklaufen, war meine Antwort.
Inzwischen hasste ich Srebrenica. Ich war so wütend. Diese Menschen hatten ihre eigenen Verwundeten verraten. Ich schätzte, dass ich vierzig der siebenundneunzig Kranken und etwa achthundert Zufluchtsuchende an Bord hatte. Die Kranken wurden zerquetscht und unter der Last zertrampelt.
(…) Wir hielten den Konvoi kurz vor der serbischen Frontlinie an. Ich stieg aus, ging nach vorne und sah den General mit Pyers [britischer Major und Adjutant von Morillon]. Ich erklärte ihm, was passiert war.
– Werden die zusätzlichen Soldaten hier ein Chaos verursachen?
– Larry, die Serben wären froh, wenn du alle rausbringen würdest.
Er hatte so recht. Ich ging zurück zum Konvoi. Ein serbischer Offizier stand daneben.
– Mr. Larry, ich habe hier ein paar alte Leute aus Bratunac. Sie sind Muslime. Bitte bringen Sie sie nach Tuzla.
Ich sah sie mir an. Sie waren alt und verkrümmt und sicherlich gebrechlicher als die Mehrheit meines Konvois von sogenannten Kranken.
– Wollt ihr nach Tuzla gehen? fragte ich jeden von ihnen.
– Ja – sie antworteten enthusiastisch. Ich habe sie an Bord genommen. Obwohl wir den Serben vielleicht einen Gefallen taten, ließen sie sich an jedem Kontrollpunkt Zeit. Sie zählten und zählten nach, lachten und drohten, provozierten und demütigten mich. Es war früher Abend, als ich mit ihnen in Tuzla ankam. Wir wurden von der Polizei und einer Flotte von Krankenwagen zum Fußballstadion eskortiert, das in ein riesiges Empfangszentrum umgewandelt worden war. Hunderte von Medienvertretern beobachteten, wie der Konvoi seine menschliche Fracht auslud. Sie wurden hinuntergetragen und die Treppe hinauf zu den Ärzten begleitet, die darauf warteten, sie einzustufen. (…) ABC News fand mich bald und nahm mir die Tony Birtley-Bänder ab – die ersten Filme aus Srebrenica. Er filmte gerade, als die Lastwagen beladen wurden. Ich hoffte, dass es keine Aufnahmen von mir gab, wie ich Menschen von den Lastwagen warf.

(Quelle: Larry Hollingworth: „AID MEMOIR“; 2021; Published in the United States by The Refuge Press Originally published in 1994 by Heinemann; S. 290f.)

Die hier von der UN unterlassene Unterscheidung von männlichen Kombattanten und Nichtkombattanten ist laut Genfer Konventionen nicht zulässig und damit nicht mit humanitärem Völkerrecht vereinbar, denn die Genfer Konventionen sind zwischenstaatliche Abkommen und eine essentielle Komponente des humanitären Völkerrechts. Laut Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention Artikel 50 i.V.m. Artikel 43 von 1977 heißt es zur Definition der Zivilbevölkerung:

  1. Zivilperson ist jede Person, die keiner [bewaffneter Kraft der Kriegsparteien] angehört. Im Zweifelsfall gilt die betreffende Person als Zivilperson.
  2. Die Zivilbevölkerung umfasst alle Zivilpersonen.
  3. Die Zivilbevölkerung bleibt auch dann Zivilbevölkerung, wenn sich unter ihr einzelne Personen befinden, die nicht Zivilpersonen im Sinne dieser Begriffsbestimmung sind.

Art. 51 Zusatzprotokoll zur Gender Konvention, 1977:

  1. Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen genießen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren. (…)
  2. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. (…)
  3. Zivilpersonen genießen den durch diesen Abschnitt gewährten Schutz, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

Nachfolgend die Bilder vom Beginn der Evakuierungen in der Tagesschau vom 31.3.1993 ab 7:17

Nachfolgend die Tagesschau vom 13.4.1993 über die Geschehnisse ab Beginn.

Darin heißt es an Ende des Srebrenica-Beitrages:

Der Leiter der Hilfsaktionen erklärte, die Flüchtlinge hätten nur die Wahl, entweder wie Vieh abtransportiert oder von Serben abgeschlachtet zu werden.

Es war also den Verantwortlichen schon 1993 – ganze zwei Jahre vor dem Massaker – bewusst, dass die Zivilisten, die die UN nicht retten würde, ermordet werden könnten.

Geschlechterspezifische Aspekte

Die Professorin Charli Carpenter hat die geschlechterspezifischen Aspekte bei diesem humanitären Versagen der UN untersucht und die Ergebnisse in dem Buch „Innocent women and children – Gender, norms and the protection of civilians“ veröffentlicht. Hier einige Auszüge aus der Arbeit, die die Vorgänge in Srebrenica 1993 betreffen:

Etwa 9.000 Menschen wurden durch die UNHCR evakuiert, fast alles Frauen, Alte und Verwundete. Obwohl diese Evakuierung ursprünglich nur für besonders kranke und vom Hungertod bedrohte Personen vorgesehen war, wurden schließlich Personen aller demographischen Kategorien mit Ausnahme von arbeitsfähigen erwachsenen Männern auf UNHCR-Lastwagen nach Tuzla transportiert. Während der Evakuierung wurde Männern zwischen 15 und 60 Jahren der Zugang zu den Konvois ausdrücklich verweigert; wer versuchte, sich unter den Horden anderer Flüchtlinge zu verstecken, wurde von UNHCR-Beamten entfernt, die sich weigerten, für ihren Schutz verantwortlich zu sein.
Srebrenica, das belagert war und bombardiert wurde, war noch nicht gefallen, so dass Männer und Jungen wohl nicht unmittelbar von einem Massaker bedroht waren. Es gab jedoch ernsthafte Befürchtungen, dass die Enklave in Kürze fallen würde, da die BSA-Kräfte vor kurzem zwei andere Enklaven in Konjevic Polje und Cerska überrannt hatten. Da der Beschuss wahllos tötete, bestand für sie nicht weniger als für alle anderen eine unmittelbare Gefahr des Todes oder der Zerstückelung. Auch wenn viele der arbeitsfähigen Männer von Srebrenica Kämpfer und einige sogar Kriegsverbrecher waren, handelte es sich bei vielen um dieselben zivilen Ehemänner, Väter und älteren Brüder, die zwei Jahre später in Massengräbern enden sollten. Bereits 1993 war den Schutzhelfern bewusst, dass nach dem Fall der Stadt an die BSA vor allem Männer und Jungen hingerichtet werden sollten. Ihr Auftrag bestand darin, die am stärksten gefährdeten Zivilisten zu evakuieren. Warum erhielten Frauen, Kinder und ältere Menschen, nicht aber Männer im „militärischen Alter“ Zugang zu den UNHCR-Evakuierungskonvois aus der Enklave? ((R. Charli Carpenter, University of Pittsburgh, USA: „Innocent women and children“ – Gender, norms and the protection of civilians; Routledge Taylor & Francis Group, London and New York, 2016, first publishes 2006 by Ashagte Publishing; S.144f.)
Selbst diejenigen Befragten [UNHCR-Beamten], die dazu neigten, „Zivilist“ mit „Frauen“ gleichzusetzen, gaben auf Nachfrage zu, dass es sicherlich viele erwachsene männliche Zivilisten gab.
Die große Mehrheit der Männer [in Srebrenica] waren Zivilisten… Ich denke, nicht unbedingt, weil sie sich weigerten zu kämpfen, sondern weil es einfach nicht genug Waffen gab… nur wenige der Männer waren bewaffnet und trugen Uniformen.
In Bosnien gab es eine allgemeine Wehrpflicht, so dass jeder, der das Alter von 18 bis 40 Jahren erreicht hatte, gesetzlich zum Dienst verpflichtet war. Die Einberufung war jedoch auf 18 bis 40 Jahre beschränkt; sie töteten alle zwischen 15 und 60 Jahren…
(…)
Wir haben versucht, den Menschen zu helfen. Aber da stießen wir auf die größten Hindernisse. Es hat sich ein Muster herausgebildet, nach dem wir Frauen und Kinder relativ leicht herausholen konnten. Wenn es schwierig war, Menschen aus den Enklaven – Zepa, Srebrenica, Gorazde, Bihac – herauszubringen, waren es Frauen, Kinder und ältere Menschen. Mit älteren Männern gab es kein solches Problem.
Viele Frauen verweigerten die Evakuierung, um zusammen zu bleiben, da sie wussten, dass das Todesrisiko für Männer gerade dann steigt, wenn sie von ihren Familien getrennt sind. Während des Krieges bemühten sich zivile Männer, ihre eigene Flucht zu sichern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Regel “nur Frauen und Kinder“ in Frage stellten, stieg mit der Erkenntnis, dass der Fall einer Stadt unmittelbar bevorstand. Es gab einige Fälle, in denen Männer und Jungen sich als Frauen verkleideten, um zu entkommen  (S. 149)
Nachdem eine geschlechtsselektive Evakuierungsregelung eingeführt worden war, wie 1993 in Srebrenica, waren die meisten Männer bereit, sich an die Vorgabe zu halten. BSA-Kämpfer waren dafür bekannt, erwachsene Männer festzunehmen, die in Konvois erwischt wurden, und UNHCR-Beamte waren bereit, die Regel “nur Frauen und Kinder“ durchzusetzen. Wie ein UNHCR-Beamter erklärte: “Sie hatten Angst, eine Evakuierung zu akzeptieren.“ Stattdessen gelang es den Männern manchmal, durch verdeckte Methoden zu entkommen. So heuerte das UNHCR beispielsweise einheimische Männer als Dolmetscher an, damit sie mit den Schutzmannschaften mitfahren konnten, und UNPROFOR-Beamte schmuggelten oft Männer in ihren Landrovern hinaus. (R. Charli Carpenter, University of Pittsburgh, USA: „Innocent women and children“ – Gender, norms and the protection of civilians; Routledge Taylor & Francis Group, London and New York, 2016, first publishes 2006 by Ashagte Publishing; S.149f.)

Das bedeutet, die politisch Verantwortlichen kümmerten sich lediglich um den Schutz der Frauen und Kinder. Männer, egal ob Militär oder Zivilist, wurden ihrem Schicksal überlassen. Es lag damit in der Zivilcourage der UNHCR-Leute vor Ort, ob sie Männer auf eigenes Risiko retten wollten oder nicht. Und es lag an den Männern selbst, zu versuchen, sich zu retten, soweit dies möglich war, weil sie mit der „nur Frauen und Kinder“-Regelung der politisch Verantwortlichen nach der Einnahme der Enklave mit ihrer Ermordung rechnen mussten.

Die einzelnen Familien reagierten unterschiedlich auf die Ausschlussprotokolle. „Ein Mann war vielleicht absolut empört darüber, dass er nicht evakuiert wurde, neun andere Männer waren vielleicht froh, dass ihre Familien wenigstens ausreisen konnten“. (R. Charli Carpenter, University of Pittsburgh, USA: „Innocent women and children“ – Gender, norms and the protection of civilians; Routledge Taylor & Francis Group, London and New York, 2016, first publishes 2006 by Ashagte Publishing; 150)
Die Beweise sprechen dafür, dass die Kriegsparteien und nicht die Zivilbevölkerung selbst auf dem Ausschluss von „Männern im militärischen Alter“ aus den Evakuierungskonvois bestanden haben. Nicht nur die BSA, sondern auch die bosnischen Behörden zogen es vor, erwachsene Männer und ältere Jungen in den Städten zu behalten. Die BSA-Führer betrachteten die Männer als „Kriegsverbrecher“ und beabsichtigten, sie beim Fall der Städte massenhaft hinzurichten oder zu inhaftieren. Die bosnischen Behörden brauchten Wehrpflichtige für die Verteidigung der Städte. „Die Serben waren froh, wenn es nur Männer waren, denn dann würden sie in Srebrenica einmarschieren und es dem Erdboden gleichmachen… Das wiederum veranlasste die bosnische Regierung, die Zivilisten nicht evakuieren zu lassen… gewissermaßen als Schutzschild für die Männer zu dienen.“
Die Verantwortlichen der BSA und der bosnischen Regierung waren sich uneinig über die Frage, ob „andere“ Zivilisten evakuiert werden sollten. Die serbische Führung hatte aus drei Gründen einen Anreiz, „mutmaßliche Zivilisten“ freizulassen. Erstens verstand sie sehr wohl, dass die internationale Gemeinschaft den Tod von Frauen und Kindern als mutmaßliche Zivilisten als größeres Ärgernis betrachtete als den von erwachsenen Männern, und sie versuchte, die Kosten für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Besetzung von Städten zu minimieren: „Je weniger Widerstand die internationale Gemeinschaft leisten würde, wenn nur noch Militärs übrig blieben, desto besser“.
Zweitens: Da ihr Ziel in erster Linie darin bestand, leeres Land zu erobern, anstatt Menschen zu töten, zogen sie es vor, dass die Mehrheit der Zivilisten von sich aus abzog, um die Wiederbesiedlung der Städte mit ethnischen Serben zu erleichtern. Drittens waren sie sich darüber im Klaren, dass die Evakuierung der Familien der Männer zum einen den Anreiz für Männer zum Kämpfen verringern würde (viele verteidigten lediglich ihre Familien) und zum anderen die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens des Westens verringern würde, was den Fall der Enklaven beschleunigen würde.
(…)
Aus der Sicht der bosnischen Behörden war das Kalkül genau umgekehrt. In dem Maße, in dem das Leiden der  „Frauen und Kinder“ die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erregte, war es für sie von Vorteil, eine breite Bevölkerungsbasis in einer bestimmten Stadt zu erhalten. Außerdem befürchteten sie den Zusammenbruch der Moral und die Verringerung der Zahl der Wehrpflichtigen, wenn die Familien die Stadt verlassen würden. Das Hauptargument für die Ablehnung von Evakuierungsangeboten war jedoch, dass dies die ethnische Säuberung selbst erleichtern würde. Die bosnischen Behörden spielten den Befürchtungen des Westens in Bezug auf die Mitschuld am Völkermord in die Hände, indem sie die Befürchtung schürten, dass die Umsiedlung von Menschen die Drecksarbeit der Serben bedeuten würde. David Harland, der während des gesamten Krieges an den Verhandlungen mit der BSA teilnahm und später den Bericht des UN-Generalsekretärs über den Fall von Srebrenica verfasste, erklärte:
Die Serben sagten immer wieder, wir würden jedem freien Durchgang anbieten, außer Männern unter 60 Jahren. Und die Regierung sagte nein. Sie wollten die Männer dort behalten. Jeder wusste, dass es in Wirklichkeit um Land ging. Die Regierung vertrat den Standpunkt, dass die Frauen und Kinder – Entschuldigung, die Nichtkämpfer – den Kämpfern einen gewissen Schutz bieten würden. Und wenn man nur die Kämpfer zurückließ, wären die Kämpfer verwundbarer.
Damit reagierte die BSA-Führung sowohl auf eine verinnerlichte Geschlechtersubnorm, nach der der zivile Status nach Geschlecht und Alter definiert wurde, als auch auf die Erwartung der internationalen Gemeinschaft, die Situation zu interpretieren.
Erstens diente die Subnorm als kognitive Vorgabe, die der BSA die Möglichkeit gab, zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden: BSA-Kämpfer konstruierten einfach alle Männer im militärischen Alter als Kombattanten und damit als legitime militärische Ziele. Nach dieser Logik wurden Frauen und Kinder als vermeintliche Zivilisten als nicht bedrohlich angesehen: Sie könnten vergewaltigt oder vertrieben werden, aber wenn man sie am Leben ließ, ging man davon aus, dass sie sich wahrscheinlich nicht gegen die Serben erheben würden.
Zweitens wurde die BSA-Führung durch ihre Vorstellung von den moralischen Vorlieben der internationalen Gemeinschaft gebremst. Sie ging davon aus, dass der Westen sich mehr um Frauen und Kinder als um Männer sorgen würde und dass die Verschonung von Frauen und Kindern vor einem regelrechten Massaker als Beweis für die zumindest marginale Einhaltung zivilisierter Verhaltensnormen dienen könnte. Auf diese Weise sollte die Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Intervention des Westens verringert werden.
Die bosnischen Behörden haben sich aus demselben Grund dafür entschieden, Frauen und Kinder sowie Männer in Gefahr zu bringen, um die Sympathie der Außenwelt zu wecken. Aber aufgrund der gleichen Tendenz, diejenigen, die Frauen und Kindern absichtlich Schaden zufügen, als Monster zu betrachten, konnten die bosnischen Behörden dieses Argument nur bis zu einem gewissen Grad anwenden. Dies erklärt zum Teil, warum die bosnische Regierung trotz ihrer anfänglichen Präferenzen schließlich die Evakuierung der „mutmaßlichen Zivilisten“ akzeptierte. Da die BSA in ihrem erklärten Wunsch, die Zahl der „zivilen“ Opfer zu begrenzen, die moralische Oberhand behielt, hatte sie bei diesen Verhandlungen mehr Einfluss und die bosnischen Behörden gaben schließlich den begrenzten Evakuierungsvorschlägen nach.
Kurz gesagt, die kognitiven Vorgaben beeinflussten die Präferenzen der Konfliktparteien; die normativen Vorstellungen der Außenwelt beeinflussten ihre relative Verhandlungsmacht. Als schließlich über die Evakuierung verhandelt wurde, wurden erwachsene zivile Männer ausgegrenzt. Dies befriedigte die BSA-Kämpfer, die ihre „legitimen Ziele“ beibehielten, die bosnischen Behörden, die ihr Reservoir an potenziellen Kämpfern beibehielten, und die internationale Gemeinschaft, die sich damit zufrieden geben konnte, „wenigstens“ den „Schwächsten“ geholfen zu haben.

(R. Charli Carpenter, University of Pittsburgh, USA: „Innocent women and children“ – Gender, norms and the protection of civilians; Routledge Taylor & Francis Group, London and New York, 2016, first publishes 2006 by Ashagte Publishing; 150ff)

Die Rezension von Carpenters Arbeit von Skjelsbæk, Inger (2007) in Gender and Development 15(2): 345–347 (https://www.prio.org/publications/3693) führt aus:

In „Unschuldige Frauen und Kinder“: Gender, Norms and the Protection of Civilians“ untersucht Charli R. Carpenter die Art und Weise, in der die Normen für den Schutz von Zivilisten zutiefst geschlechtsspezifisch sind. Carpenter zeigt auf, dass der Begriff des unschuldigen Zivilisten auf tief verwurzelten geschlechtsspezifischen Essentialismen beruht, die sich auf unser Verständnis der Schutzbedürfnisse von Zivilisten und auf unsere Reaktionen darauf auswirken. Die Unterscheidung zwischen Kämpfern und Zivilisten, die eigentlich darauf beruhen sollte, was Kämpfer und Zivilisten tun, basiert häufig darauf, wer sie sind, was zu einer Voreingenommenheit gegenüber Frauen und Kindern auf Kosten der nicht kämpfenden Männer führt.
Diese geschlechtsspezifischen sozialen Konstruktionen des Zivilschutzregimes haben drei verschiedene Konsequenzen, argumentiert Carpenter (S. 2-4). Erstens führt dieses Konzept zum Schutz einiger Zivilisten auf Kosten anderer. Wenn Dritte beispielsweise Gräueltaten verurteilen, bezieht sich die Verurteilung auf das Geschlecht und das Alter der Zivilisten (d. h. es wird nur der Missbrauch von Frauen und kleinen Kindern verurteilt). Zweitens werden die geschlechtsspezifischen sozialen Konstruktionen reproduziert, wenn Interessenvertretungsnetzwerke Gräueltaten in den Kontext der Darstellung von Frauen als schwach und verletzlich einordnen, um die Aufmerksamkeit auf die vom Krieg betroffene Zivilbevölkerung zu lenken. Und schließlich beruht die Art und Weise, wie der Schutz der Zivilbevölkerung tatsächlich durchgeführt wird, weitgehend auf diesen geschlechtsspezifischen Normen, wodurch erwachsene männliche Zivilisten einem großen Risiko von Verstößen gegen das humanitäre Recht ausgesetzt sind.
(…)  Hier zeigt sie auf elegante Weise, welche Form geschlechtsspezifische Essentialismen innerhalb des Zivilschutzregimes annehmen können.
(…) Einer der genialsten Aspekte ihrer Arbeit ist, dass sie Gender-Analysen ernst nimmt, indem sie sich sowohl auf Frauen als auch auf Männer konzentriert. Das ist etwas, das viele feministische Wissenschaftlerinnen als Ziel angeben, aber häufig nicht erreichen (…). Indem sie die geschlechtsspezifischen Normen innerhalb des humanitären Schutzsystems kritisch untersucht, rückt Carpenter die Verletzlichkeit von Männern auf eine Weise in den Vordergrund, die der Rezensent in der Literatur im Bereich der internationalen Beziehungen noch nicht gesehen hat. Dieser besondere Aspekt macht Carpenters Arbeit sehr wertvoll. Männer als geschlechtsspezifische Subjekte sind nicht ausreichend analysiert worden, oder besser gesagt, sie wurden nur als Vertreter von Macht und Prestige als bedeutsam analysiert. Die Verletzlichkeit von Männern bzw. die Diskriminierung von Männern ist ein zentrales Thema, das bisher in der Diskussion fehlte.“

Die Bühne ist bereitet

Nach der Einrichtung von Srebrenica als UN-Schutzzone beruhigte sich die Situation vorerst. Allerdings ließen die bosnischen Serben zwei Jahre lang keine Evakuierungen mehr zu – bis zum Jahr 1995.

Wir erinnern aber nochmals an die Aussage am Ende der oben gezeigten Tagesschau-Berichte:

Der Leiter der Hilfsaktionen erklärte, die Flüchtlinge hätten nur die Wahl, entweder wie Vieh abtransportiert oder von Serben abgeschlachtet zu werden.

Das war nicht richtig. Die Frauen hatten die Wahl. Männer hatten nicht die Wahl. Die Bühne zum Massaker von Srebrenica war bereitet.

Weiter im nächsten Teil.

Bildquelle: Adobe stock von marketanovakova, Potocari, Bosnia and Herzegovina – July 31, 2019. Green grave of last DNA identified victim of Srebrenica massacre between white tombstones