Massaker von Srebrenica (3)

Massaker von Srebrenica (3)

Warum teilt die Weltgemeinschaft bis heute Menschenrechte?

„Denken Sie an die Medien, die viele unserer Visionen und Bilder von solchen Situationen schaffen. Sie wollen eine Geschichte, und die Geschichte handelt von der Beziehung zwischen Gut und Böse, von bösen Männern mit Waffen und guten, unschuldigen Frauen und Kindern, die leiden, verhungern und vergewaltigt werden. Das ist eine Wahnsinnsgeschichte. Man will sie nicht verkomplizieren.“

Beim Massaker von Srebrenica ab dem 11. Juli 1995 wurden 8000 Jungen und Männer in einer UN-Schutzzone in unmittelbarer Nachbarschaft von UN-Blauhelmsoldaten ermordet. Die Frauen und Kinder wurden in Bussen evakuiert und gerettet. Die Männer wurden ihren Schlächtern übergeben. Ein gutes Vierteljahrhundert später wird in der sogenannten Istanbul-Konvention, in der Gewalt gegen Frauen, aber nicht Gewalt gegen Männer geächtet wird, das Menschenrechtsversagen der Weltgemeinschaft zum politischen Konzept. 27 Jahre nach Srebrenica hat die Weltgemeinschaft männlichen Opfern von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung keine andere Lösung zu bieten als Wegschauen. 2021 meint die Heinrich-Böll-Stiftung zu der Tatsache, dass die Weltgemeinschaft die Frauen in Srebrenica rettete, während sie 8.000 Männer und Jungen aus ihrer Schutzzone ihren Schlächtern überließ, dies sei „ein empirisch nicht nachgewiesener vermeintlicher Missstand zu Lasten von Jungen und Männern“.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Versuche wie die der Heinrich-Böll-Stiftung, männliche Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch zu verharmlosen oder vielleicht gänzlich zu vertuschen, werden wir diese Menschenrechtsverbrechen und das Menschenrechtsversagen der Weltgemeinschaft in Erinnerung behalten.

In Teil 1 und 2 haben wir die Geschehnisse in Srebrenica 1993 und 1995 dargestellt.

In diesem Beitrag wollen wir die Frage erörtern, wie es sein kann, dass die Weltgemeinschaft bis heute Menschenrechte teilt.

Wesentliche Aspekte hat Charli Carpenter[1] in ihrer Arbeit „‚Women, Children and Other Vulnerable Groups‘: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue“ schon 2005 aufgeführt, die wir nachfolgend in einigen Punkten wiederholt aufgreifen, ergänzen diese Arbeit aber durch zusätzliche Punkte und neue Erkenntnisse.

Warum „Besonders Frauen und Kinder“?

Im Krieg ist im Gegensatz zu Friedenszeiten Gewalt und Töten völkerrechtlich legitimiert. Trotzdem gab es schon immer Graubereiche, welche Ausprägung von Gewalt im Krieg noch moralisch akzeptiert oder schon verwerflich ist.

Zumindest seit dem Mittelalter ist der zivile Status von Frauen mit einer Norm verbunden, der Frauen als das „schwächere“ Geschlecht betrachtet, das aufgrund seiner „Verletzlichkeit“ besonderen Schutz verdient.[2] So wurde schon im Sempacher Brief der Eidgenossen von 1393 ausdrücklich die Schonung von Frauen und Kindern gefordert.

Mit den Genfer Konventionen wollte man ab 1864 humanitäre Mindeststandards auch im Kriegsfall regeln. Die mittlerweile vier Genfer Konventionen sind zwischenstaatliche Abkommen und eine essentielle Komponente des humanitären Völkerrechts. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten. Laut Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention Artikel 50 i.V.m. Artikel 43 von 1977 heißt es zur Definition der Zivilbevölkerung:

  1. Zivilperson ist jede Person, die keiner [bewaffneten Kraft der Kriegsparteien] angehört. Im Zweifelsfall gilt die betreffende Person als Zivilperson.
  2. Die Zivilbevölkerung umfasst alle Zivilpersonen.
  3. Die Zivilbevölkerung bleibt auch dann Zivilbevölkerung, wenn sich unter ihr einzelne Personen befinden, die nicht Zivilpersonen im Sinne dieser Begriffsbestimmung sind.

Art. 51 Zusatzprotokoll zur Gender Konvention, 1977:

  1. Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen genießen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren. (…)
  2. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. (…)
  3. Zivilpersonen genießen den durch diesen Abschnitt gewährten Schutz, sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.

Wie man sieht, ist das Unterlassen der Unterscheidung von männlichen Kombattanten und Nichtkombattanten danach nicht zulässig und damit nicht mit humanitärem Völkerrecht vereinbar. Nicht alle Männer – auch nicht im wehrfähigen Alter – sind Kombattanten. Hinzu kommt, dass vermehrt auch Frauen Wehrdienst – wenn auch selten als Pflichtdienst – an der Waffe leisten. Zudem ist es laut Artikel 38 UN-Kinderrechtskonvention zulässig, auch 16- und 17-Jährige zum Kriegsdienst auch mit der Waffe einzuziehen, wenn auch dies möglichst nicht vorrangig geschehen sollte. Und das, obwohl nach Artikel 1 der Konvention grundsätzlich jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, als Kind gilt. Das bedeutet, dass Frauen und sogar Kinder heute nicht mehr pauschal als Zivilist zu betrachten sind und auch Männer im wehrfähigen Alter nicht automatisch Kombattanten sind.

Vor allem seit der Revolution der leichten Waffen und vor dem Hintergrund der Bürgerkriege, die den größten Teil des Globus erfassen, sind Frauen und Kinder in zunehmender Zahl unter Waffen. Siehe Goodwin-Gill und Cohn (1994), Bennett et al.(1995), Smith (1997), Hughes (2000) und Lindsey (2001).[3]

Trotzdem orientieren sich die UN und die mit ihr kooperierenden humanitären Hilfseinrichtungen bei der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten an Alter und Biologie, ziehen die Grenze zwischen „Männern“ und „Frauen und Kindern“.

Ich glaube, in der gesamten sogenannten humanitären Welt gibt es eine Besessenheit von Frauen und Kindern. Ich habe schon früher im UNHCR dafür plädiert und plädiere auch weiterhin dafür, dass wir unsere Strategiepapiere umschreiben, um dies zu ändern … aber es ist sehr in Mode gekommen, über Frauen, Kinder und ältere Menschen zu sprechen, wenn man über gefährdete Gruppen spricht. -UNHCR-Beamter, August 2002[4]

Frauenpolitische Ausrichtung der Hilfsorganisationen seit der Jahrtausendwende

Carpenter hat analysiert, wie häufig in „Schlüsseldokumenten“ der Jahrtausendwende explizit Kinder, Männer und Frauen als schutzwürdig aufgeführt wurden. Sie hat dazu die OCHA-Online-Website genutzt. Die OCHA ist das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten. Die Dokumente dort wurden von der OCHA selbst als repräsentativ für den „Schutz der Zivilbevölkerung“ als länderübergreifendes Thema eingestuft. Die nachfolgenden Grafiken geben einige der Ergebnisse wieder.

Unter PoC-Dokumenten in den Grafiken sind Dokumente im Zusammenhang mit dem Schutz der Zivilbevölkerung zu verstehen (PoC = Protection of Civilians).

Man erkennt, dass schon um die Jahrtausendwende das Engagement der Weltgemeinschaft neben Kindern auf Frauen als schutzwürdige Gruppe fixiert war.

Ein IKRK-Beamter erklärte Carpenter 2002 auf die Frage, warum Frauen als solche als verletzlich gelten: „Frauen sind aus physischen Gründen und solchen Faktoren verletzlicher als Männer.“[5] Nur wenige empfinden auch Empathie für männliche Opfer von Gewalt:

Ich denke, es hat viel mit Kommunikation zu tun. In vielen Medienberichten und Pressemitteilungen ist von „einschließlich Frauen und Kindern“ die Rede. Ich denke, das sollten wir nicht tun. Denn es vermittelt den Eindruck, dass Menschen weniger Aufmerksamkeit verdienen, weil sie nicht zufällig eine Frau oder ein Kind sind. -ICRC-Vertreterin, Abteilung Frauen und Krieg, August 2002[6]

Lindsey hat 2001 dargelegt:

In der öffentlichen Wahrnehmung (wenn auch nicht im humanitären Völkerrecht) wurden Frauen innerhalb der Zivilbevölkerung als Ganzes tendenziell in die einzige Kategorie „Frauen und Kinder“ eingeordnet, und Männer wurden als Zivilisten weitgehend vergessen, als ob sie alle Kombattanten wären. In dem Maße, in dem diese geschlechtsspezifischen Überzeugungen die gezielte Bekämpfung ziviler Männer und älterer Jungen legitimieren, untergraben sie den Grundsatz der Unterscheidung, der von den Kriegführenden verlangt, Zivilisten von Kombattanten auf der Grundlage ihrer Handlungen zu unterscheiden und nicht anhand von Merkmalen wie Geschlecht oder Alter. Lindsey[7]

Ein Beamter der IKRK-Schutzabteilung meint:

Diejenigen, über die niemand spricht, sind die erwachsenen Männer zwischen 18 und 60 Jahren, denn sie sind traditionell die Täter, sie sind die Bösen. [8]

Männertäter-Frauenopfer-Stereotype

Carpenter[9] schreibt:

Historisch gesehen sind sowohl die kriegführenden Parteien, die Zurückhaltung üben, als auch die Menschenrechtsverfechter, die sie fördern oder ihr Fehlen verurteilen, davon ausgegangen, dass „Frauen und Kinder“ von Natur aus „unschuldig“ sind und daher als solche Immunität verdienen, während die Norm im Fall von männlichen Wehrpflichtigen mehrdeutig ist. (…)
Befürworter des Schutzes der Zivilbevölkerung haben in den 1990er Jahren die Sprache der „unschuldigen Frauen und Kinder“ verwendet, um die kriegführenden Parteien aufzufordern, sich zurückzuhalten, die mächtigen Staaten aufzufordern, in humanitären Notsituationen einzugreifen, und potenzielle Geber aufzufordern, Hilfe zu leisten:

  • Die Rebellengruppen sollten die Qualität ihrer Führung unter Beweis stellen, indem sie das Abschlachten von Unschuldigen wie Frauen, Kindern und Behinderten einstellen. -Nelson Mandela, 2000

  • Die USA werden die moralische Verantwortung übernehmen müssen, dort einzugreifen, wo unschuldige Frauen und Kinder im Namen ethnischer Säuberungen abgeschlachtet werden. -Abgeordneter Coleman, D-Texas, 1993

  • Müssen wir, die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, wirklich noch mehr unschuldige Frauen und Kinder zu Tausenden abschlachten, damit sich unsere Prioritäten und unser Engagement ändern? – Bericht an die Carnegie-Kommission zur Verhütung tödlicher Konflikte, April 1998

(…)
Dass die Immunitätsnorm in Bezug auf Männer schwächer ist, zeigt sich in Zitaten aus dem zeitgenössischen Schutz Diskursen, in denen die gezielte Tötung von Zivilisten „unabhängig von Geschlecht oder Alter“ als besonders grausam angesehen wird. Siehe die Webseite „The Nature of War“, OCHA Online, http://www.reliefweb.int/ocha_ol/civilians/nature_of_war/index.html.

Und das IKRK veröffentlichte „im selben Jahr, in dem fast 8.000 unbewaffnete Männer und Jungen in Srebrenica hingerichtet wurden, ein ausgeklügeltes Dokument mit dem Titel „Civilians in War“ (Zivilisten im Krieg), das neben „Minen“, „Wasser“ und „humanitärem Recht“ auch Abschnitte über „Frauen“ und „Kinder“ enthielt, aber keine Bilder von erwachsenen Männern in Uniform zeigte und die endemischen Muster von Angriffen auf männliche Zivilisten, wie sie von Jones dokumentiert wurden, nicht erörterte.“[10]

Die Keimzelle der Teilung der Menschen ist bereits in Menschenrechtskonvention angelegt

Menschenrechte beruhen auf der Überzeugung, dass jedes Menschenleben gleichwertig ist. Auf dieser Voraussetzung beruht deshalb auch die Ansicht, dass alle Menschen von Geburt an die gleichen Rechte haben. In Artikel 25 Abs. 2 der UN-Menschenrechtskonvention heißt es jedoch: „Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung.“ Wohlgemerkt, hier wird nicht von Schwangeren geredet, sondern von Müttern. Dem Vater wird dieser Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung nicht zugestanden. Damit wird nämlich Müttern mehr Schutzwürdigkeit zugestanden als Vätern. Somit hat die UN schon in ihrer eigenen Menschenrechtskonvention die Keimzelle für die Teilung der Menschenrechte gelegt.

Das ist ein sehr wesentlicher Aspekt, wie wir in den beiden nachfolgenden Punkten sehen werden.

Nur Mütter werden als für Kinder wichtig gesehen

Charli Carpenter hat nämlich gezeigt, dass Frauen seit jeher mit der Kindererziehung in Verbindung gebracht werden. Auch der generelle Ausschluss von Frauen aus Streitkräften wurde oft mit ihrer Frauenrolle als Kinderbetreuerinnen gerechtfertigt.[11] Diese Geschlechterrollen sind auch heute noch in nationalen Familienrechten zementiert, die Väter häufig nur eine Beziehung zum Kind ermöglichen, wenn die Mutter dies erlaubt. In Deutschland stellt z. B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bis heute regelmäßig Verletzungen gegen Artikel 6: Recht auf ein faires Verfahren, Artikel 8: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Artikel 13: Recht auf wirksame Beschwerde und Artikel 14: Verbot der Benachteiligung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte fest, ohne, dass die politisch Verantwortlichen etwas Effektives dagegen unternehmen.[12]

Wie schon in vorherigen Punkt gezeigt, sind diese archaischen Geschlechterrollen, die zu einer unterschiedlichen Wertigkeit von Menschleben führt, bereits in der UN-Menschenrechtskonvention verankert.

Dabei zeigen unzählige Kindeswohlstudien auf nationaler und internationaler Ebene, dass es Kinder gut geht, wenn sie mit zwei Eltern aufwachsen, und die Forschung hat gezeigt, dass sich die moralische Entwicklung von Kindern, die ohne Vater aufwachsen, viel schwieriger verläuft.[13]

Aus dem Vorgenannten ist der Schritt vom vorrangigen Schutz für Mütter zum vorrangigen Schutz für Frauen nicht mehr weit, da nur Frauen Mütter und Männer „nur“ Väter sein können.

Zusammenfassen von Frauen und Kindern

UNICEF hat laut Carpenter schon seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts begonnen, das Wohlergehen von Kindern als Synonym für das Wohlergehen von Frauen zu definieren, und zwar mit dem Slogan „Kinderrechte sind Frauenrechte“.[14]

Der Ständige interinstitutionelle Ausschuss (IASC), eine Organisation der Vereinten Nationen mit der Aufgabe, die Koordinierung von humanitärer Hilfe, sowohl zwischen UN-Organisationen als auch Nicht-UN-Organisationen, zu verbessern, legte 1999 dar:

In vielen Fällen sind Frauen und Mädchen im Teenageralter in Konfliktgebieten als Ehefrauen, Mütter und Schwestern die einzigen Ernährerinnen und Beschützerinnen ihrer Familien, da ihre Ehemänner, Brüder, Söhne und Väter entweder vertrieben oder getötet wurden oder im Kampfeinsatz sind. [15]

Diese Aussage ist grundsätzlich nicht falsch. Aber das Nichtvorhandensein von Männern wird hier nicht näher analysiert. Da Väter nicht da sind, um ihre Familien zu schützen, werden sie lediglich nicht als humanitäres Ziel wahrgenommen. Es wird nicht klargestellt, dass Männer sich nicht um ihre Kinder kümmern können, weil sie aufgrund ihrer weltweit zugewiesenen Männerrolle zwangsrekrutiert und an der Front Gewalt, Tod und Verstümmelung ausgesetzt werden und so ein eigenständiges Schutzproblem darstellen, das nicht wahrgenommen wird.

Save the Children schreibt schon 2002:

Es wird immer deutlicher, dass das Leben von Kindern gefährdet ist, wenn das Leben von Frauen nicht geschützt wird … die Weltgemeinschaft kann und muss mehr tun, um den Schutz von Frauen, Müttern und Kindern in bewaffneten Konflikten zu einer Priorität zu machen. [16]

Deshalb muss, so die Forderung von Save the Children, die Betreuung und der Schutz von Frauen und Kindern in ethnischen und politischen Konflikten die humanitäre Priorität sein.[17]

„Frauen und Kinder“ als statistische Strategie

Rein statistisch macht die Zusammenfassung von Frauen und Kindern als eine einheitlich zu betrachtende Gruppe gegenüber Männern keinen Sinn.

Aber durch die Zusammenfassung von Frauen und Kinder als schutzbedürftige Gruppe profitieren Frauen einerseits von der zweifellos besonders schutzbedürftigen Gruppe der Kinder. Andererseits wird dadurch medial strategisch sichergestellt, dass es sich um die Mehrheit der betroffenen Bevölkerung handelt, denn die Anzahl von Frauen und Kindern, insbesondere, wenn man dann noch die alten Menschen miteinbezieht, ist natürlich größer als die der Männer allein.

Abhängigkeit der Hilfsorganisationen von Staaten als Geldgeber

Ich denke, es ist so einfach, mit diesem Diskurs über gefährdete und unschuldige Menschen fortzufahren. Nicht für mich, aber für viele Akteure, wie z.B. UNICEF, ist es wichtig, Geld zu bekommen, es ist ein Diskurs, den viele Geber benutzen, die dem UNHCR die ganze Zeit über Frauen und Kinder einhämmern, und ich bin mir nicht immer sicher, ob sie wirklich wissen, wovon sie reden, aber es ist einfach, sich darauf zu konzentrieren. UNHCR-Beamter, Abteilung Evaluierung und Politik, August 2002[18]

Hilfswerke brauchen Geld, um ihrer Hilfe leisten zu können. Und wenn Hilfswerke weltweit tätig werden wollen, brauchen sie sehr viel Geld. Zu den mächtigen Verbündeten gehören deshalb neben internationalen Organisationen und den globalen Medien insbesondere Staaten. Damit sind die Hilfsorganisationen abhängig von den Staaten und diese haben durchaus Interessen, Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch von Männern unsichtbar zu machen. Warren Farrell schrieb in seinem Buch “The Myth of Male Power (1993), Part 1”:

Alle Gesellschaften, die überlebt haben, haben überlebt, weil sie in der Lage waren, ihre Söhne darauf vorzubereiten, im Krieg und bei der Arbeit – und damit als Väter – einsetzbar zu sein.

Das bedeutet, dass für den Wohlstand eines Landes und die Machtposition der Herrschenden die jederzeitige Verfügbarkeit von Männerleben essentiell ist. Männerleben werden für gefährliche Arbeiten, um die Wirtschaft voranzutreiben oder als Waffe in Kriegen eingesetzt. Gewalt, Tod und Verstümmelung werden dabei bereitwillig in Kauf genommen. In Familien wird ihnen die Versorgeraufgabe zugewiesen. Deshalb gibt es auch viele legale Gewaltformen gegen Jungen und Männer, wie z. B. die Wehrpflicht.

Nehmen wir als aktuelles Beispiel Katar. Im August 2021 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht[19], in welchem die Organisation dem Tod etlicher Gastarbeiter in Katar nachging. Die darin zitierten Regierungsdaten zeigen, dass zwischen 2010 und 2019 15.021 Nichtkatarer aller Altersgruppen in dem Land gestorben sind. In dem Bericht dokumentiert Amnesty International, wie der diesjährige WM-Ausrichter Katar routinemäßig Totenscheine für Arbeitsmigranten ausstellt, ohne angemessene Untersuchungen zur Todesursache durchzuführen. Katar habe zwar seit 2017 eine Reihe von Reformen auf den WM-Baustellen eingeführt, hieß es am 16.11.2021 in einer Mitteilung der Menschenrechtsorganisation.[20] Diese würden aber „nicht angemessen umgesetzt, was bedeutet, dass die Ausbeutung weitergeht.“

Schon im Februar 2021 enthüllte der »Guardian«[21] die Sterberaten von Gastarbeitern, indem die Zeitung Daten der Regierungen ihrer Herkunftsländer gegenprüfte: „Mehr als 6500 Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind in Katar gestorben, seit das Land vor zehn Jahren den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft erhalten hat.“ Die tatsächliche Zahl der Todesfälle wird noch höher eingeschätzt, da bei manchen Herkunftsländern, etwa den Philippinen oder Kenia, keine Daten erhoben wurden.

Auf der Homepage der OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) haben wir darüber aber nichts gefunden. Stattdessen lobt der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) in seinem Fact Sheet zu Katar vom 16. May 2022[22] das Land als großzügigen Geldgeber für die UN:

Katar ist nach wie vor ein starker Partner des UNHCR und einer der größten Geber in der Golfregion, der sowohl von der Regierung als auch von privaten Spendern erhebliche Mittel erhält. Seit 2019 rangiert Katar unter den zehn größten Pro-Kopf-Gebern des UNHCR weltweit und ist durch seinen Kernbeitrag und die Finanzierung aus dem Qatar Fund for Development (QFFD) auch Mitglied des 20-Millionen-Dollar-Clubs.

Katar wird weiter für seine humanitären Programme gelobt, darunter auch für Winter- und Bargeldhilfe, Bildung, Unterkünfte, Existenzsicherung, Klimawandel und Gesundheit.

Zudem existieren die althergebrachten Männertäter-Frauenopfer-Stereotype, die auch die moderne Geschlechterpolitik nicht beseitigt und auch nicht beseitigen will. Durch die im Gegensatz zu der von Mädchen heute noch allgemeine Akzeptanz von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung wird schon Jungen durch die Herrschenden deutlich gemacht, dass der Staat über ihren Köper Verfügungsgewalt hat. Auf dieses Kapital möchten Staaten nicht verzichten und haben Interesse daran, Gewalt gegen Jungen und Männer nicht zu thematisieren, sondern sie möglichst zu normalisieren.

Abhängigkeit der Hilfsorganisationen von Staaten für Handlungsoptionen

Zudem ist es für die Hilfsorganisationen oft notwendig, sich mit Krieg führenden Parteien auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu arrangieren, um tätig werden zu können. Gerade die Leichtigkeit, mit der die UN-Schutzzone Srebrenica 1995 gewaltsam überrollt werden konnte, hat gezeigt, dass die UN in humanitären Einsätzen militärisch unbedeutend ist. Das bedeutet, die Hilfsorganisationen müssen sich auch mit zweifelhaften Regimes einigen, wenn sie vor Ort tätig werden wollen.

Um sich bei den Kriegsparteien für die vom Krieg betroffene Zivilbevölkerung einsetzen zu können, müssen humanitäre Organisationen ein Umfeld schaffen, in dem die Kriegsparteien bereit sind, zuzuhören und zu verhandeln (Cutts, 1999). Um selbst humanitäre Maßnahmen durchführen zu können – die Bereitstellung von Hilfsgütern, der Abtransport von Zivilisten aus belagerten Gebieten, die Bereitstellung medizinischer Versorgung – benötigen die Schutzorganisationen Zugang zur Zivilbevölkerung, was in der Regel auch Verhandlungen in gutem Glauben mit den kriegführenden Parteien erfordert, die das Gebiet kontrollieren, in dem sich die Zivilisten befinden.[23]

Darüber hinaus reagieren die Zielgruppen möglicherweise eher auf den Rahmen als auf die Norm. So ließ die bosnisch-serbische Armee häufig Frauen und Kinder fliehen, während sie erwachsene Männer und ältere Jungen tötete und behauptete, dass dies die Einhaltung der Norm der zivilen Immunität darstelle (Burg und Shoup, 1999). Indem sie geschlechtsspezifische Essentialismen verwenden, um kriegerische Verpflichtungen zu artikulieren, reproduzieren Befürworter des Zivilschutzes stillschweigend die intersubjektiven Verständnisse, die solche Praktiken ermöglichen.[24]

Weiter im 4.Teil

Damit sind die Ursachen und Gründe für die Teilung der Menschenrechte noch nicht abschließend erschöpft. Im 4. Teil werden wir als weitere wichtige Ursachen und Gründe auf das internationale Frauennetzwerk und die Medien sowie das Framing der Berichterstattung aufzeigen. Dabei wird auch dargelegt, dass beim Framing auch nicht vor der Verbreitung falscher oder unbelegter Zahlen zurückgeschreckt wird.

Wir zeigen weiterhin auf, wie Hilfsorganisationen die einseitigen Bilder weiblicher Opfer übernehmen. Schließlich ziehen wir ein Fazit, welche Folgen dieses bewusst konstruierte Gender Bias auf die Durchsetzung der Menschenrechte in der Praxis hat.

Quellen

[1] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, 295–334

[2] JOHNSON, J. T. (1981) Just War Tradition and the Restraint of War. Princeton: Princeton University Press. S. 131 – 150

[3] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005), 49, S.296 Fußnote 3

[4] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005), 49, S.325f.

[5] Persönliches Interview Carpenter, Mai 2002, Genf; vgl. R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S.308

[6] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S.325

[7] (2001) Women Facing War. Geneva: ICRC; S.28

[8] Persönliches Interview Carpenter, Mai 2002, Genf; vgl. R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S.303

[9] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S. 302, darunter auch Fußnote 12

[10] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S.304

[11] GOLDSTEIN, J. (2001) War and Gender. Cambridge, MA: Cambridge University Press.

[12] https://manndat.de/vaeter/liste-menschenrechtsvergehen-gegen-vaeter.html; Abruf 18.6.22

[13] Ursula Kodjoe in „Genderwelten – Familie“ unter https://genderwelten.de/familie/ ab 9:30 Min.

[14] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005), 49, S.306

[15] INTER-AGENCY STANDING COMMITTTEE (IASC). (1999) ‘‘Policy Statement for the Integration of a Gender Perspective in Humanitarian Assistance.’’ Included in the IASC SWG Gender and Humanitarian Assistance Resource Kit, available on CD-ROM from the UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs.

[16] SAVE THE CHILDREN (2002) State of the World’s Mothers: Mothers and Children in War and Conflict. Westport,CT: Save the Children. S.2

[17] SAVE THE CHILDREN (2002) State of the World’s Mothers: Mothers and Children in War and Conflict. Westport,CT: Save the Children. S.6

[18] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005), 49, S.325f.

[19] Amnesty International: „In the Prime of their Lives. Qatar’s failure to investigate, remedy and prevent migrant workers‘ deaths“¸ Index: MDE 22/4614/2021; veröffentlicht 2021

[20] https://www.spiegel.de/kultur/wm-in-katar-wer-fussball-liebt-darf-ueber-die-toten-nicht-schweigen-a-dc3d98b6-40b3-4dc7-9d82-69a6b07f6600, Abruf 26.6.22

[21] https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022, Abruf 26.6.22

[22] https://reliefweb.int/report/qatar/unhcr-qatar-factsheet-may-2022; Abruf 26.6.22

[23] R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S.314

[24] S R. Charli Carpenter: ‘‘Women, Children and Other Vulnerable Groups’’: Gender, Strategic Frames and the Protection of Civilians as a Transnational Issue; International Studies Quarterly (2005) 49, S..312

 

Bildquelle: human-rights-adobestock_97209887-nito